16. Dezember 2015

Gastrezension: "Runa" von Vera Buck


Limes Verlag | 608 Seiten | ISBN: 978-3809026525  | 19,99 € | Roman

Fesselnde Medizingeschichte

Paris 1884. Das Hôpital de la Salpêtrière verfügt über die modernste neurologische Abteilung von ganz Europa. Hier wird Medizingeschichte geschrieben, hier geben sich die ganz Großen gegenseitig die Klinke in die Hand, hier führt der berühmte Arzt Charcot seine wissenschaftlichen Kunststücke in gut gefüllten Hörsälen vor. Und Jori Hell sieht seine Chance bei Charcot seine Dissertation zu schreiben, um den ersehnten Doktorgrad zu erlangen, indem er den Wahnsinn aus dem Kopf der Patientin Runa schneidet.

Der Protagonist Jori ist Arzt und hat für seine Dissertation die berühmteste Klinik Europas gewählt, die Salpêtrière. Hier regieren die Ansichten von Charcot, hier zeigt der bekannte Neurologe seine Kunststücke an hysterischen Patienten im Hörsaal vor und hier findet man, neben einer aufstrebenden Masse junger Ärzte, große Namen, die gebannt an den Lippen des Klinikleiters hängen.

Vera Buck hat mich gemeinsam mit Jori in den Hörsaal gesetzt, hier haben wir Charcots Darbietung bestaunt, vor Ekel den Mund verzogen oder vor Staunen aufgerissen. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, als würde ich dem Spektakel persönlich beiwohnen, habe mich wissbegierig mit Jori umgesehen und dabei u.a. die Herren de la Tourette (Tourette-Syndrom) und Pasteur (pasteurisieren) entdeckt. 

Der Aufbau der Geschichte entspricht einer wissenschaftlichen Arbeit, also dem Forschungsprozess, wie er sich seit damals nicht verändert hat. Entdeckungen bringen Nachforschungen mit sich, münden in Hypothesen, sind von Komplikationen durchzogen und werden im günstigsten Fall zur Veröffentlichung gebracht.

Daneben wirft die Autorin weitere Handlungsstränge auf. Man stellt gemeinsam mit einem ehemaligen Polizisten Nachforschungen an und erlebt die Ereignisse durch einen Jungen, der sich unabsichtlich in Verstrickungen rund um die Salpêtrière begibt. Denn Runa hat in ihrer geistigen Umnachtung in halb Paris Botschaften hinterlassen, die nicht nur bei den Medizinern Interesse wecken.

Ungeschönt beschreibt die Autorin die Zustände in der Salpêtrière, die damals gang und gäbe waren und stellvertretend für den Umgang mit geistig erkrankten Menschen im Namen der Wissenschaft stehen:

„Die Salpêtrière mochte die berühmteste Klinik in ganz Frankreich sein. Sie mochte die modernste sein. Doch nichts konnte über die Tatsache hinwegtäuschen, dass inmitten dieser Modernität rund 4000 Kranke, Alte und Verrückte lagen, die jammerten, weil sie starben, oder heulten, weil sie noch lebten.“ (S. 35)

Die Salpêtrière hat Medizingeschichte geschrieben. Undenkbar, wo die heutige Neurologie wäre, wären die damaligen Forscher nicht über Leichen gegangen. Vera Buck zeigt auf eindrucksvolle Weise, welcher Preis für die medizinischen Errungenschaften der Gegenwart bezahlt wurde, welche Opfer gebracht wurden und welche Scheußlichkeiten sich hinter verschlossenen Türen ereigneten. Und die Autorin gibt diesen Gräueltaten einen Namen und ein Gesicht: „Runa“, eine Stellvertreterin für die tausenden von alten, kranken und falsch behandelten Patienten, die in der kultivierten Salpêtrière unter dem Deckmantel des medizinischen Fortschritts das Grauen der Moderne ertragen mussten.

Wer sich für die Irrungen, Wirrungen und Errungenschaften der Medizin interessiert, einen starken Magen hat und das Grauen hinter den Wänden der Salpêtrière ertragen kann, wird hier auf ein fesselndes Werk stoßen, das mir ausgezeichnet gefallen hat.

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